web_Umschlag-JustizVon Wolfram Treiber

Vor etlichen Jahren fragte der Referent auf einer Veranstaltung zum Versammlungsrecht als Einstieg das Publikum, was denn das Versammlungsrecht sei. Kennzeichnenderweise kamen daraufhin lauter Beiträge, die die Einschränkung des Versammlungsrechts beschrieben, und das bei einem Publikum, das wohl in seiner großen Mehrheit mit Sicherheit für die Versammlungsfreiheit eingestellt war. Offensichtlich haben deren Einschränkungen in der Praxis bis heute dazu geführt, dass in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ihre Gewährleistung, sondern ihre vielfältige Einschränkung und Reglementierung als „normal“ begriffen werden . Insofern erscheint es sinnvoll, zunächst einmal das Bundesverfassungsgericht als „unverdächtige Quelle“ zu Wort kommen zu lassen und auf dieser Grundlage an einzelnen Beispielen aktuelle Einschränkungen der Versammlungsfreiheit zu kommentieren.

Unabhängig davon darf nicht übersehen werden, dass bereits die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit nur für Deutsche gilt und bereits durch das Versammlungsgesetz erheblich eingeschränkt wurde. Darüber hinaus hat die Föderalismusreform inzwischen allen Bundesländern die Möglichkeit eröffnet, eigene Landesversammlungsgesetze zu erlassen, sodass die Ausübung eines elementaren Menschenrechts absurderweise von den jeweiligen Mehrheiten in einer Landesregierung abhängt. Die weitgehende Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch das bayrische Landesversammlungsgesetz, deren erstes Opfer im Übrigen ein ver.di- Gewerkschaftssekretär war, wurde zwar nicht zuletzt aufgrund des großen gesellschaftlichen Widerstands vom Bundesverfassungsgericht in einem Eilverfahren vorläufig in weiten Teilen gekippt. Das Beispiel hat jedoch gezeigt, dass zukünftig immer mit elementaren Eingriffen in die Versammlungsfreiheit zu rechnen sein wird. Auch in Baden-Württemberg war bereits ein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht worden, das darüber hinaus bereits im Vorgriff von etlichen Versammlungsbehörden angewandt wurde.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung zur Bedeutung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe unter anderem in seiner „Brokdorf-Entscheidung“ wie folgt ausgeführt: „Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht. (vgl. BVerfGE 69, 315 – Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985).“

„In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (…) wird auch die Meinungsfreiheit seit Langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gezählt. Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]; 12, 113 [125]; 20, 56 [97]; 42, 163 [169]). Wird die Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden, kann für sie nichts grundsätzlich anderes gelten. Dem steht nicht entgegen, dass speziell bei Demonstrationen das argumentative Moment zurücktritt, welches die Ausübung der Meinungsfreiheit in der Regel kennzeichnet. Indem der Demonst rant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit und ohne Zwischenschaltung von Medien kundgibt, entfaltet auch er seine Persönlichkeit in unmittelbarer Weise.“ (…)

(…) „An diesem Prozess sind die Bürger in unterschiedlichem Maße beteiligt. Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt sind, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im Allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen.“

„Nach alledem werden auch in der Literatur Versammlungen zutreffend als wesentliches Element demokratischer Offenheit bezeichnet: „Sie bieten … die Möglichkeit zur öffentlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest …; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“. So zitiert das Bundesverfassungsgericht in seiner oben zitierten Brokdorf-Entscheidung Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 14. Auflage, 1984, S. 157, und führt weiter aus: „Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes.“

(…)“In einer Demokratie müsse die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt verlaufen; das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußere sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung, die sich in einem demokratischen Staatswesen frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich „staatsfrei“ vollziehen müsse. BVerfGE 20,56 [98 f.]“

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 8 Grundgesetz Versammlungen und Aufzüge – im Unterschied zu bloßen Ansammlungen oder Volksbelustigungen – als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. In einer Entscheidung vom 7. 3. 2011 zu Sitzblockaden ( 1 BvR 388/05) hat das Bundesverfassungsgericht wie folgt ausgeführt: „Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 [342 f.]; 87, 399 [406]). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (vgl. BVerfGE 73, 206 [248]; 87, 399 [406]; 104, 92 [103 f.]). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl.BVerfGE 69, 315 [345]).“

Versammlungsrecht geht allgemeinem Polizeirecht vor

Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind, solange die Teilnehmenden unter dem Schutz des Versammlungsrechts stehen, nach geltendem Recht grundsätzlich nicht nach allgemeinem Polizeirecht, sondern nur auf Grundlage des Versammlungsgesetzes möglich.

Auch auf dem Weg zu einer Versammlung steht der Teilnehmende unter dem Schutz des Versammlungsrechts.

Dazu hat das VG Sigmaringen in seiner Entscheidung zur Rechtswidrigkeit des Polizeikessels gegen AntifaschistInnen am 1. Mai 2009 in Ulm ausgeführt, das Maßnahmen gegenüber Teilnehmern einer Versammlung aufgrund des allgemeinen Polizeirechts erst zulässig sind, wen n die Versammlung aufgelöst oder der betroffene Teilnehmer von der Versammlung ausgeschlossen wurde:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. 4. 2007 – 1 BvR 1090/06 sind Maßnahmen, die die Teilnahme an einer Versammlung beenden – wie ein Platzverweis oder eine Gewahrsamnahme – rechtswidrig, solange die Versammlung nicht gem. § 15 Abs. 3 VersammlG aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen wurde (a.a.O. Randnummer 40). Art. 8 Grundgesetz gebiete diese für den Schutz des Grundrechtsträgers wesentlichen Förmlichkeiten. Denn es handele sich um Anforderungen der Erkennbarkeit und damit der Rechtssicherheit, deren Beachtung für die Möglichkeit einer Nutzung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit wesentlich sei.

In Versammlungen entstünden häufig Situationen rechtlicher und tatsächlicher Unklarheit. Versammlungsteilnehmer müssten wissen, wann der Schutz der Versammlungsfreiheit ende, denn Unsicherheiten könnten sie einschüchtern und von der Ausübung des Grundrechts abhalten. Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richteten sich nach dem Versammlungsgesetz. Dieses Gesetz gehe in seinem Anwendungsbereich als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor. Eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränkt werde, scheide aufgrund der Sperrwirkung der versammlungsrechtlichen Regelungen aus.“ (VG Sigmaringen, Urteil vom 29. November 2010, Az. 1 K 3643/09).

Vielfältige Eingriffe in der Praxis der Polizei

Soweit die Theorie … In der Praxis gab es in den letzten Jahren zunehmend vielfältige Eingriffe in die Versammlungsfreiheit, unter anderem durch massenhafte Gewahrsamnahme in Polizeikesseln gegenüber Hunderten von Personen über viele Stunden hinweg. Obwohl in vielen dieser Fälle wie in dem des Polizeikessels am 1. Mai 2009 in Ulm Jahre später die Rechtswidrigkeit des Kessels festgestellt wurde und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu eindeutig ist, bleibt die Einkesselung Hunderter von VersammlungsteilnehmerInnen beliebtes Mittel der polizeilichen Taktik.

Dazu einige Beispiele:

a) Am 1. Mai 2009 riefen der Deutsche Gewerkschaftsbund und ein breites gesellschaftliches Aktionsbündnis „Ulm gegen rechts“ zu einer überregionalen antifaschistischen Versammlung auf, an der mehr als 10 000 Menschen teilnahmen. Anlass war eine geplante, in ganz Süddeutschland mobilisierte, überregionale Versammlung von Nazis und Neonazis, darunter die Autonomen Nationalisten, die ausgerechnet am 1. Mai parallel zu den Versammlungen der Gewerkschaften demonstrieren wollten, eine gezielte Provokation. Wenige Wochen zuvor hatten Nazis bereits großflächig die Fassade des DGB-Hauses in Ulm beschmiert.

Zur Erinnerung: Nachdem die Nazis den 1. Mai 1933 umfunktioniert hatten, wurden die Gewerkschaften am 2. Mai 1933 direkt nach dem 1. Mai verboten. Am 2. Mai besetzen SA-Männer das Gewerkschaftshaus am Weinhof, auf dem Dach der Wirtschaft zum Mohren hissten sie die Hakenkreuzfahne.

Ende April 1933 verfügt Wilhelm Dreher, staatlicher Polizeikommissar für Ulm und Oberschwaben, ein Verbot von Jazzmusik in Ulm mit der Begründung, „Niggermusik“ sei ein öffentliches Ärgernis und könne deshalb nicht geduldet werden. Jazz verhunze und verschandle deutsches Fühlen und Empfinden.

Mitte März 1933 tauchen Zeitungsberichte im „Ulmer Tagblatt“ und im „ Ulmer Sturm“ über Verhaftungen von NS-Gegnern auf – jeweils versehen mit dem Hinweis, dass die betreffenden Personen ins „Konzentrationslager Heuberg“ überstellt werden. Mitte April 1933 sind 1950 Menschen, meist KPD- und SPD-Funktionäre, auf dem Heuberg inhaftiert, unter ihnen Wilhelm Wirthle, Leonhard Gerlinger und rund 60 weitere Ulmer, schreibt Kienle in dem Beitrag „Häftlinge aus der Region Ulm in den frühen KZ Heuberg und Kuhberg “. Viele Häftlinge werden schwer misshandelt, jüdische Geschäftsinhaber werden terrorisiert, bereits im April 1933 hetzen die Ulmer Nazis gegen die polnischen Juden: Wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit werden ihre Geschäfte geschlossen. (Die Informationen stammen aus einer Artikelserie in der Ulmer Lokalpresse und wurden vom Bündnis Ulm gegen rechts verbreitet.)

Aus diesen Gründen wurde auch in den Gewerkschaften überregional zur Teilnahme an der antifaschistischen gewerkschaftlichen Versammlung gegen das Auftreten der Neonazis am 1. Mai 2009 in Ulm aufgerufen.

Auch drei Reisebusse mit AntifaschistInnen aus dem Badischen, darunter viele GewerkschafterInnen, folgten dem Aufruf. Die Insassen der drei Busse, die an der antifaschistischen gewerkschaftlichen 1.Mai-Demonstration teilnehmen wollten, verließen ihre Busse aus parkplatztechnischen Gründen circa 500 bis 1000 Meter von der gewerkschaftlichen Auftaktkundgebung entfernt und gingen gemeinsam auf direktem Wege Richtung Sammlungsplatz Weinhof. Kurz vor dem Sammlungsplatz in der Sattlergasse wurden sie von einer Polizeieinheit ohne jeden erkennbaren Anlass gestoppt und am Zugang zur Gewerkschaftsversammlung gehindert. Kurz darauf wurde hinter der Gruppe eine zweite Polizeikette gezogen, sodass die Gruppe in einem Polizeikessel war, in dem sie etwa fünf bis sechs Stunden zubringen musste. Versammlungsteilnehmende der Auftaktkundgebung, die sich mit den Eingekesselten solidarisierten und deren Teilnahme an der 1.Mai-Demonstration forderten, wurden ebenfalls mit eingekesselt. Alle im Kessel wurden erkennungsdienstlich behandelt und ihre Daten gespeichert. Angeblich wollten sich die 150 Ortsunkundigen nach angeblichen „polizeilichen Erkenntnissen“ als „Schwarzer Block“ an die Spitze der Gewerkschaftsdemonstration mit 10 000 Personen stellen … Ein Kommentar dazu erübrigt sich.

In der Folge wurden etliche der Eingekesselten mit Strafbefehlen überzogen, gegen die sich jedoch viele nicht zur Wehr setzten, da sie die Prozess- und Anwaltskosten scheuten und sich ja dazu noch extra Urlaub für das Strafverfahren in Ulm hätten nehmen müssen. Dabei hatten sie eigentlich nur den Appell des damaligen Bundespräsidenten Köhler in den Medien befolgt, man solle gegen Intoleranz und rassistische Überfälle von Neonazis „Flagge“ zeigen; so etwas wie die Zeit des „Dritten Reiches“ dürfte sich nie wiederholen.

Da nützte es ihnen auch nichts, dass das VG Sigmaringen die Rechtswidrigkeit des Polizeikessels eineinhalb bzw. zwei Jahre später in zwei Entscheidungen feststellte.

b) Am 1. Mai 2011 riefen das „Heilbronner Bündnis gegen rechts“ unter Federführung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und andere antifaschistische Organisationen überregional zum Protest gegen eine überregionale Versammlung von Nazis und Neonazis am 1. Mai in Heilbronn auf, für die diese in ganz Süddeutschland mobilisiert hatten. Schwerpunkt der traditionellen Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds zum 1. Mai, dem Internationalen Tag der Arbeit, in Heilbronn war es also, Flagge zu zeigen gegen den geplanten Aufmarsch von Nazis. Die Gewerkschaften nehmen das Auftreten von Nazis und Neonazis am 1. Mai besonders ernst, da einen Tag nach dem 1. Mai 1933 in Deutschland die Gewerkschaften verboten, die Gewerkschaftshäuser von den Nazis besetzt und viele GewerkschafterInnen verhaftet, in Konzentrationslager gesperrt und ermordet worden waren.

Aus diesem Grunde entschlossen sich viele GewerkschafterInnen, den DGB Heilbronn bei seiner Maikundgebung und seinem Protest gegen das Auftreten der Nazis am 1. Mai zu unterstützen. Für den Nachmittag war eine weitere antifaschistische Demonstration geplant, die jedoch erst in einem Eilverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof hatte durchgesetzt werden müssen.

Für 400 bis 500 der von außerhalb mit der Bahn angereisten AntifaschistInnen endete die geplante Teilnahme an der Versammlung jedoch auf dem Heilbronner Bahnhofsvorplatz, auf dem sie bis zu elf Stunden(!) im Polizeikessel zubringen mussten. Auch eine Teilnahme an der gewerkschaftlichen 1.- Mai-Veranstaltung war nicht möglich. Die Betroffenen, darunter auch etliche ältere GewerkschafterInnen, mussten Stunden im Polizeigewahrsam im Stehen verbringen, ohne Sonnenschutz, ohne Möglichkeit, eine Toilette zu benutzen, und in ihrem elementaren Recht auf Versammlungsfreiheit rechtswidrig beschnitten. (Siehe auch den vorherigen Beitrag von Lothar Letsche: „Elf Stunden im Polizeikessel von Heilbronn“.)

Erst nach massiven Protesten wurde es einigen wenigen gestattet, die Toilette im Bahnhof aufzusuchen. Dabei wurden die „Glücklichen“ aus dem Polizeikessel, denen es gestattet wurde, auf die Toilette zu gehen, jeweils zu zweit oder dritt von mehreren Beamten bis zur Toilettentüre im Bahnhof begleitet, und anschließend vor der Toilettentüre wieder in Gewahrsam genommen und zurück in den Polizeigewahrsam vor dem Bahnhof gebracht so wie man es üblicherweise vom Umgang mit Strafgefangenen kennt. Sie durften sich auch nicht zum Bahnsteig begeben, um etwa die Stadt Heilbronn zu verlassen, sondern mussten zurück in den Polizeikessel auf dem Bahnhofvorplatz.

Da die Gewahrsamnahme mehrere Stunden dauerte und da ein Toilettenbesuch nur wenigen möglich war, nachdem er ja nur jeweils zwei bis maximal drei Personen unter Polizeibewachung erlaubt wurde, mussten sich Versammlungsteilnehmende in unwürdiger Weise auf dem Bahnhofsvorplatz hinter dem vorgehaltenen DGB-Transparent unter dem Feixen der Polizeibeamten erleichtern.

Verwaltungsgericht Stuttgart weist Klagen ab

Im Anschluss versuchten unter anderem zwei ältere Gewerkschaftsmitglieder, die achteinhalb beziehungsweise elf Stunden im Polizeikessel vor dem Heilbronner Bahnhof unter den darüber hinaus unzumutbaren Bedingungen zubringen mussten, und die auch nicht an der 1. Mai- Versammlung des DGB teilnehmen konnten, die Rechtswidrigkeit des Polizeikessels gerichtlich feststellen zu lassen.

Skandalöserweise wurde die Klage der Gewerkschafter jedoch vom Verwaltungsgericht Stuttgart abgewiesen. Obwohl die Rechtswidrigkeit des Polizeikessels vor dem Heilbronner Bahnhof klar auf der Hand lag, machte sich das Verwaltungsgericht die Argumentation der Vertreterin des Regierungspräsidiums, die das beklagte Land Baden-Württemberg vertrat, zu eigen, wonach es sich um gar keinen Polizeikessel gehandelt hätte(!). Ein Polizeigewahrsam sei ja erst am späten Nachmittag ab 16.11 Uhr verhängt worden, da die Teilnehmenden nicht den Bahnhofsvorplatz verlassen hätten, für den eine Allgemeinverfügung am 1. Mai ein Versammlungsverbot verfügt habe.

Dabei ließ das Verwaltungsgericht völlig außer Acht, dass sogar nach den im Prozess vom beklagten Regierungspräsidium vorgelegten Polizeidurchsagen ein Verlassen des Bahnhofsvorplatzes von zumindest 11.31 Uhr bis 13.18 Uhr nicht möglich war. Einer der gewerkschaftlichen Kläger war kurz zuvor mit dem Zug im Bahnhof angekommen und konnte somit erstmals in seinem Leben nicht wie geplant an der Gewerkschaftskundgebung zum 1. Mai teilnehmen, die vom DGB in der Zeit von 10.30 Uhr bis 13:00 Uhr angemeldet worden war.

Der Kläger wurde somit durch den Polizeigewahrsam selbst nach dem Vortrag der Beklagtenvertreterin ohne jeden Anlass und deshalb rechtswidrig auch daran gehindert, an der Gewerkschaftsversammlung teilzunehmen; denn nach dem Vortrag der Beklagten war die Versammlung zu dem Zeitpunkt, zu dem er erstmals die Möglichkeit gehabt hätte, den Polizeigewahrsam vor dem Bahnhof zu verlassen, bereits vorbei.

Selbst wenn es möglich gewesen wäre, den Polizeikessel zu verlassen, wie das Verwaltungsgericht aufgrund der Angaben des Regierungspräsidiums entgegen der Erfahrung der mehreren Hundert Eingekesselten unterstellte, gab es unstreitig bis um 18.07 Uhr allenfalls eine einzige(!) Durchlassstelle. Nach Auflösung der Versammlung um 18.07 Uhr dauerte es bis circa 20 Uhr, bis alle Personen den Bahnhofsvorplatz verlassen konnten. Allerdings mussten nach Darstellung der Beklagten dann um 18.07 Uhr mehrere Durchlassstellen gebildet werden, um überhaupt die angeordnete Durchsuchung aller VersammlungsteilnehmerInnen bewältigen zu können. Daraus ergibt sich, dass die Durchsuchung der 450 bis 500 Personen bei nur einer Durchlassstelle sowieso mehrere Stunden in Anspruch genommen hätte. Demnach war auch nach der Version des Regierungspräsidiums die Teilnahme an der 1.Mai-Versammlung des DGB in Folge des Polizeikessels tatsächlich gar nicht möglich gewesen. Das polizeiliche Vorgehen war also auch nach diesem Vorbringen rechtswidrig, da Vorkontrollen bei Versammlungen so gestaltet werden müssen, dass dadurch die Teilnahme an der Versammlung nicht vereitelt wird.

Sämtliche Kommentare zum Versammlungsrecht weisen darauf hin, dass „wirksame Vorkontrollen friedliche Teilnehmende nicht übermäßig belasten dürfen, etwa so, dass durch eine erhebliche Zeitverzögerung ein zeitgerechtes Aufsuchen des Veranstaltungsortes nicht möglich ist“ (so auch die Kommentierungen aus den Reihen der Polizei wie zum Beispiel Brenneisen/Wilksen: „Versammlungsrecht“, Verlag Deutsche Polizeiliteratur, 4. Aufl. 2011; oder Polizeidirektor a. D. Roos/Kriminaldirektor Bula in „Das Versammlungsrecht in der praktischen Anwendung“, 2. Auflage).

Das Verwaltungsgericht hätte somit, selbst wenn es das von den eingekesselten Klägern bestrittene Vorbringen des Regierungspräsidiums seiner Entscheidung zugrunde legen wolltet, zumindest von einem zeitweiligen Polizeikessel ausgehen und dessen Rechtswidrigkeit feststellen müssen.

Die Freiheitsentziehung des Klägers im Polizeikessel vor dem Heilbronner Hauptbahnhof war deshalb schon allein deshalb rechtswidrig, als der Kläger unter dem Schutz des Versammlungsrechts stand, da er sich auf dem Weg zu einer rechtmäßigen Versammlung befand und an der Teilnahme gehindert wurde.

Bezeichnenderweise hieß es in der Klageerwiderung des beklagten Regierungspräsidiums, der Aufzug des „Heilbronner Bündnisses gegen rechts“ unter Federführung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sei in der Zeit zwischen 10:30 und 13:00 Uhr „genehmigt“ und der Aufzug der weiteren antifaschistischen Versammlung in der Zeit zwischen 14:00 und 16:30 Uhr „genehmigt“ worden .

Dies verrät viel über das Verständnis der beteiligten Behörden vom elementaren Recht auf Versammlungsfreiheit als kollektive Meinungsfreiheit, wobei gerade die Behörden immer wieder gerne davon sprechen, dass wir in einer „lebendigen Demokratie“ leben würden. Denn hier verkennt das Regierungspräsidium offensichtlich, dass Versammlungen weder erlaubnis- noch genehmigungspflichtig, sondern allenfalls anmeldepflichtig sind, sofern sie nicht spontan erfolgen.

Es wäre also in der Tat geboten gewesen, dass das Gericht auch die rechtswidrige Entscheidungspraxis der Stadt Heilbronn als Versammlungsbehörde unter die Lupe genommen hätte. Dies umso mehr, als erst ein halbes Jahr vorher, am 6. Dezember 2010, circa 100 KurdInnen bei einer Versammlung mehrere Stunden lang rechtswidrig in Gewahrsam genommen worden waren, nachdem während einer Demonstration, die völlig friedlich verlief, eine(!) Person einen
kleinen Böller geworfen hatte.

c.) Am 5. 10. 2011 wurden circa 100 TeilnehmerInnen einer spontanen antifaschistischen Solidaritäts- und Protestdemonstration von der Polizei eingekesselt, die sich mit einem am 1. Oktober 2011 von einem Offenburger Nazikader schwer verletzten Antifaschisten solidarisierten. Nachdem die Versammlung von Anfang an von den Polizeikräften durch enges Polizeispalier als „Wanderkessel“ ausgestaltet worden war, wurden das Anzünden eines Bengalos und ein kleiner Silvesterböller zum Anlass genommen , 100 teilnehmende AntifaschistInnen erkennungsdienstlich zu behandeln.

Die drei aufgeführten Polizeikessel sind nur Beispiele für eine Vielzahl von Polizeikesseln, mit denen in den letzten Jahren die Versammlungsfreiheit rechtswidrig eingeschränkt wurde.

Zu den prominenten Beispielen für mehrstündige rechtswidrige Polizeikessel gehört auch der Polizeigewahrsam bei der geplanten Blockupy-Demonstration am 1. 6. 2013 in Frankfurt. Ihre Durchführung wurde durch die willkürliche Einkesselung durch über 1000 Personen rechtswidrig vereitelt. Beim Polizeikessel gegen über 4000 DemonstrantInnen im Zusammenhang mit der internationalen Demonstration anlässlich des UN-Umweltgipfels COB in Kopenhagen mussten viele Betroffene mit Kabelbindern gefesselt bei niedrigen Temperaturen Stunden am Boden zubringen.

Dieser Polizeikessel wurde ebenfalls inzwischen von den Gerichten für rechtswidrig erklärt; den Betroffenen wurden Entschädigungen zugesprochen.

VGH Baden-Württemberg: Versammlungsbeschränkungen nur bei unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zulässig

Bei der rechtlichen Beurteilung der immer häufigeren Massengewahrsamnahmen in Polizeikesseln bei Versammlungen sollte immer zunächst Ausgangspunkt sein, dass gemäß Art 8 Abs. 1 GG das Recht besteht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

Gemäß Art 8 Abs. 2 GG darf in dieses elementare Recht bei Versammlungen unter freiem Himmel nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.

An einen Eingriff in ein elementares Grundrecht sind jedoch hohe Anforderungen zu stellen, zumal Grundrechte nach einhelliger Ansicht auch Abwehrrechte der BürgerInnen gegen den Staat darstellen. Gemäß § 15 Abs.1 VersammlungsG kann die zuständige Versammlungsbehörde eine Versammlung nur dann von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei
Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Daran sind jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hohe Anforderungen zu stellen.

Dies betrifft alle die Versammlungsfreiheit einschränkenden Verfügungen, sei es in Form von einzelnen Auflagen oder in Form von Allgemeinverfügungen.

Es sollte somit noch einmal in Erinnerung gerufen werden, dass es bei dem Verfassungsgrundsatz bleibt, dass auch Versammlungen unter freiem Himmel grundsätzlich ohne Auflagen durchgeführt werden dürfen.

Selbst wenn es Einzelne oder einzelne Gruppen gäbe, die im Zusammenhang mit Versammlungen beispielsweise Aktionen propagieren würden, die nicht den Vorgaben des Art. 8 GG entsprächen, wäre dies nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (zuletzt in seiner stattgebenden Eilentscheidung vom 6. 6. 2007 – BVerfG, 1 BvR 1423/07 anlässlich des Versammlungsverbots am G 8-Gipfel) nicht zulässig, deshalb eine Versammlung bzw.
Versammlungen insgesamt zu verbieten.

Das Bundesverfassungsgericht hat dabei ausgeführt: „Ist die behördliche Verfügung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gestützt (§ 15 VersG), erfordert die von der Behörde oder den befassten Gerichten angestellte Gefahrenprognose tatsächliche Anhaltspunkte, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Im Rahmen der Folgenabwägung berücksichtigt das Gericht, ob die für die Beurteilung der Gefahrenlage herangezogenen Tatsachen unter Berücksichtigung des Schutzgehalts des Art. 8 GG in nachvollziehbarer Weise auf eine unmittelbare Gefahr hindeuten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 8/01.“ (…)

„Es bedeutet eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit, wenn eine Versammlung verboten wird oder infolge von versammlungsbehördlichen Verfügungen und verwaltungsgerichtlichen Beschlüssen nur in einer Weise durchgeführt werden kann, die einem Verbot nahekommt, etwa indem sie ihren spezifischen Charakter so verändert, dass die Verwirklichung des besonderen kommunikativen Anliegens wesentlich erschwert wird (vgl. BVerfGE 110, 77 [89]; vgl. zu weitreichenden räumlichen Beschränkungen auch BVerfGE 69, 315 [321, 323, 364 ff.] – Brokdorf).“

Nachdem der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg nunmehr in zwei Entscheidungen vom 30. 6. 2011 – Az. 1 S 2901/10 – und vom 2. 8. 2012 – Az. 1 S 618/12 – erfreulicherweise klargestellt hat, dass der Erlass von versammlungsbeschränkenden Verfügungen in jedem Falle eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung voraussetzt, könnten Versammlungen (jedenfalls soweit sich die Versammlungsbehörden an diese Vorgaben halten) in erheblich entspannterer Atmosphäre stattfinden. Die versammlungspolitische Unsitte, 30- bis 50-seitige Auflagenbescheide inklusive Erläuterungen zu erlassen, ist tatsächlich
deutlich zurückgegangen ist.

Positiver Nebeneffekt für alle Beteiligten: Die immer weiter angestiegene Anzahl von Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren in Zusammenhang mit Versammlungen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz und die üblichen Begleitstraftaten, wie zum Beispiel Beleidigung oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, ist ebenfalls zurückgegangen. Oft wurden rechtswidrige Versammlungsauflagen in der Vergangenheit von einzelnen Polizeieinheiten dazu verwendet, damit weiter rechtswidrig in die Versammlungsfreiheit einzugreifen. Damit werden genau die Auseinandersetzungen provoziert, die angeblich durch die Auflagen verhindert werden sollten. Selbst wenn dann die Rechtswidrigkeit zwei bis drei Jahre später von einem Gericht festgestellt werden sollte, ist der Schaden dadurch natürlich schon irreversibel angerichtet.

So bildet beispielsweise eine Auflage, wonach ein Transparent nicht 3,40, sondern nur drei Meter breit sein darf, oder wonach Transparentstangen nicht 2,30, sondern nur zwei Meter hoch sein dürfen, entsprechend geneigten Einsatzkräften die willkommene Grundlage, ins Versammlungsgeschehen einzugreifen und das entsprechende Transparent zu beschlagnahmen, sei es im Vorfeld der Versammlung oder sogar während der Versammlung. Hierdurch wird nicht nur das Versammlungsrecht elementar und rechtswidrig beschränkt; vielmehr werden darüber hinaus Auseinandersetzungen zwischen VersammlungsteilnehmerInnen und Polizeikräften geradezu beflügelt.

Wenn durch Allgemeinverfügungen und beschränkende Auflagen inflationär und unzulässig in die Versammlungsfreiheit eingegriffen wird, führt dies vor allem auch zu einer Kriminalisierung von VersammlungsleiterInnen und OrdnerInnen , was ebenso wenig mit den oben ausgeführten Grundsätzen der Versammlungsfreiheit vereinbar ist.

Provozierte erkennungsdienstliche Behandlungen von AntifaschistInnen

Für die meisten der verhängten Polizeikesseln mit Gewahrsamnahmen von Hunderten VersammlungsteilnehmerInnen gibt es keinen wirklichen Anlass oder allenfalls nur geringfügige Anlässe (wie zum Beispiel das Zünden einzelner kleiner Silvesterkracher durch einzelne Versammlungsteilnehmer Innen oder auch vermeintliche unwesentliche Verstöße gegen – häufig rechtswidrige – Versammlungsauflagen).

Manchmal erscheinen im Übrigen solche Vorkommnisse gerade an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt „wie bestellt“… So drängte sich bei der polizeilichen Gewahrsamnahme von über 1000 Personen im Polizeikessel bei der Blockupy-Demonstration in Frankfurt am 1. Juni 2013 der Eindruck auf, dass die Eskalation bereits vorbereitet und geplant wurde, bevor die Demonstration überhaupt eine bestimmte Stelle erreicht hatte, wobei der Kessel dann genau an der Stelle gebildet wurde, an der die Demonstration in die entgegen der ursprünglichen Verfügung der Versammlungsbehörde vom Gericht bestätigte Route einschwenken wollte.

Verstöße einer Person oder einiger weniger dienen dann als Anlass oder besser Vorwand für die Auflösung von Versammlungen bzw. die Gewahrsamnahme und anschließende erkennungsdienstliche Behandlung von Hunderten von Versammlungsteilnehmer Innen. Es besteht der Verdacht, dass es sich hier – entgegen der in diesem Zusammenhang vorgeschobenen Begründungen der Polizeieinsatzleitungen – nicht um ein notwendiges „repressives“ polizeiliches Vorgehen handelt, sondern um eine unzulässige „präventive“ Strategie.

Von den 450 bis 500 am 1. Mai 2011 auf dem Bahnhofsvorplatz in Heilbronn in Gewahrsam genommenen Personen wurden an sogenannten „Videotoren“ Porträtaufnahmen gefertigt. Derartige erkennungsdienstliche Behandlungen von Versammlungsteilnehmer Innen dienen nichts anderem als dem Aufbau von umfangreichen polizeilichen Dateien über AntifaschistInnen und andere unliebsame DemonstrantInnen dienen.

Gemäß § 81b StPO dürfen andererseits Lichtbilder und Fingerabdrücke von Beschuldigten nur vorgenommen werden, soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist.

Die Feststellung der Identität der VersammlungsteilnehmerInnen auf dem Heilbronner Bahnhofsvorplatz am 1. Mai 2011 war demnach insgesamt rechtswidrig. Weder konnte sie mit repressiv- noch auch aus präventiv-polizeilichen Gründen gerechtfertigt werden, weil die Voraussetzungen dafür sämtlich nicht vorlagen. Aber auch eine Begründung nach strafprozessualen Normen kam nicht in Betracht, weil die Feststellung nicht zum Zwecke der Durchführung von Strafverfahren notwendig war. Dasselbe gilt für die Anfertigung von Lichtbildern, weil weder die Voraussetzungen nach PolG BW noch die des § 81b (2. Alt.) StPO vorlagen.

Es ist aber zu befürchten, dass im Zuge solcher rechtswidriger Polizeigewahrsam-Maßnahmen Hunderte von Teilnehmende „präventiv“ in Dateien erfasst und gespeichert werden, insbesondere bei antifaschistischen Versammlungen, wie zum Beispiel am 1. September 2009 in Ulm (wo das VG Sigmaringen den Polizeikessel in zwei Urteilen ausdrücklich für rechtswidrig erklärt hat), oder am 1. Mai 2011 in Heilbronn.

Erfassung in Polizeidateien zur Abschreckung?

Zu befürchten ist die langfristige Speicherung in polizeilichen oder geheimdienstlichen und sonstigen Dateien, die nicht nur der Polizei zugänglich sind. Die Folgen betreffen insbesondere auch Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und anderer Unternehmen, die Sicherheitsüberprüfungen ihrer Beschäftigten bzw. von Bewerbern vornehmen. Die international kritisierte Berufsverbotspraxis und ihre Folgen können dabei nicht unerwähnt bleiben.

Es handelt sich dabei auch nicht um eine aus der Luft gegriffene Spekulation. So konnte der Verfasser vor drei Jahren im Zuge eines Ermittlungsverfahrens gegen einen noch nie strafrechtlich in Erscheinung getretenen Mandanten – das Verfahren wurde im Übrigen nach § 170 Abs.2 StPO eingestellt – in den Akten die Feststellung lesen, dass der Beschuldigte bei polizeilichen Kontrollen 1996(!), 2002 und im Jahre 2003 polizeirelevant im Zusammenhang mit Aktionen der Anti-AKW- Bewegung aufgefallen sei. Wohlgemerkt: dieser Mandant ist in diesem Zusammenhang bis heute nie strafrechtlich oder wegen einer Ordnungswidrigkeit in Erscheinung getreten beziehungsweise gar belangt worden. Trotzdem werden über ihn Daten aus Polizeikontrollen aus dem Jahre 1996(!) offensichtlich nach 14(!) Jahren immer noch gespeichert und zur Begründung eines anfänglichen Tatverdachts, der sich nicht bestätigt hat, hinzugezogen. Diese Daten sind offensichtlich im Polizeilichen Auskunftssystem (POLAS) gespeichert.

Es liegt deshalb der Verdacht nahe, dass – wenn auch rechtswidrig – in Gewahrsam genommene und erkennungsdienstlich behandelte Versammlungsteilnehmer beispielsweise einer antifaschistischen Versammlung ebenso damit rechnen müssen, dass sie in einer polizeilichen Datei wie zum Beispiel POLAS gespeichert werden beziehungsweise gespeichert bleiben, sofern sie als Ordner oder Teilnehmende polizeilich erfasst wurden.

Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Dateien, auf die die Polizei Zugriff hat, wie zum Beispiel über „international agierende gewalttätige Störer“, „Gewalttäter links“, die unter anderem zur Begründung von Ausreiseverboten während des NATO-Gipfels in Strasburg hinzugezogen wurden. Wie sich bei der in der Regel erfolgreichen Überprüfung dieser Ausreiseverbote durch das zuständige Verwaltungsgericht bereits im Eilverfahren herausgestellt hat, reicht für die Aufnahme in eine solche Datei bereits der Kontakt oder das Sich-in-der-Nähe-Aufhalten oder Begleiten einer in so einer Liste befindlichen Person aus, um ebenfalls in dieser Liste zu landen. In der Datei „innere Sicherheit“ waren nach offiziellen Auskünften im Jahre 2009 1 571 914 Datensätze, das heißt 1,5 Millionen(!) Datensätze gespeichert. Als polizeilich registrierte Versammlungsteilnehmende einer antifaschistischen Versammlung müssten die Betroffenen zum Beispiel auch befürchten, bei zukünftigen internationalen Demonstrationen gegebenenfalls ebenso mit Ausreiseverboten belegt zu werden. Dazu kommen weitere Dateien der Landesämter und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Bei internationalen Großereignissen, wie dem NATO-Gipfel, Weltwirtschaftsgipfeln, oder dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen, werden nationale Dateien auch den Behörden anderer EU-Staaten zugänglich gemacht.

Dies führt zu bürokratischer Gängelei und Kontrolle der Bürger und Bürgerinnen in einem Ausmaß, das – statt die Versammlungsfreiheit zu schützen – sie von der Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit abschreckt und die Demokratie untergräbt. Bei jeder Versammlung muss dann jede/r aktive Teilnehmer/in damit rechnen, dass seine/ihre Teilnahme erfasst wird, ohne dass nachvollziehbare Gründe für eine solche Erfassung vorliegen.

„Der hierin liegende Nachteil erhält dadurch weiteres Gewicht, dass die erfassten Daten gespeichert werden (können). Eine solche anlasslose Datenbevorratung, die allein an die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit und damit an das Gebrauchmachen von einem für die demokratische Meinungsbildung elementaren Grundrecht anknüpft, ist rechtswidrig und führt zu durchgreifenden Nachteilen.“ So auch in ständiger Rechtsprechung das Bundesverfassungsgericht, zuletzt in seiner Eilentscheidung – 1 BvR 2492/08 – vom 17. 2. 2009.

Der hierin liegende Nachteil erhält dadurch weiteres Gewicht, dass die erfassten Daten gespeichert werden (können). „Eine solche anlasslose Datenbevorratung, die allein an die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit und damit an das Gebrauchmachen von einem für die demokratische Meinungsbildung elementaren Grundrecht anknüpft, ist rechtswidrig und führt zu durchgreifenden Nachteilen.“ So in ständiger Rechtsprechung das Bundesverfassungsgericht, zuletzt in seiner Eilentscheidung – 1 BvR 2492/08 – vom 17. 2. 2009.

Auch wenn die Daten der am 1. Mai 2011 in Heilbronn Eingekesselten nach Beendigung aller Ermittlungsverfahren in der speziell dafür eingerichteten Datei angeblich gelöscht werden, wie zum Beispiel die Vertreterin des Regierungspräsidium in jenem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart behauptet hat, bedeutet dies noch lange nicht, dass diese Daten nicht zuvor an andere polizeiliche und nachrichtendienstliche Dateien weitergeleitet und dort gespeichert wurden, wie die Erfahrung zeigt.

Versammlungsfreiheit lässt sich letztlich nicht verbieten – nirgendwo auf der Welt

Eingriffe in die Versammlungsfreiheit als kollektive Meinungsfreiheit sind uns nicht nur aus Deutschland, sondern aus vielen Ländern bekannt. Die Verteidigung der Versammlungsfreiheit und die entschiedene Zurückweisung aller Einschränkungen werden uns insofern auch zukünftig immer beschäftigen. Rechtsfragen und insbesondere das Recht auf Versammlungsfreiheit sind somit auch immer Machtfragen. Alle elementaren Menschenrechte wurden uns nicht geschenkt , sondern wurden hart für uns erkämpft. An uns ist es, sie täglich zu verteidigen und weiter auszubauen.

Weltweit gleichen sich die Bilder, ob in Athen, Istanbul, Moskau, Bangladesch, Frankfurt oder Rio de Janeiro. Nicht nur bei uns steht die Versammlungsfreiheit immer wieder auf dem Prüfstand, wenn die Menschen sie in Anspruch nehmen, um ihre Rechte zu erkämpfen und zu verteidigen.

Eine Erfahrung hat jedoch die Geschichte gezeigt: Versammlungsfreiheit lässt sich vielleicht einschränken, aber letztlich niemals verbieten – nirgendwo auf der Welt.

Wolfram Treiber, Jahrgang 1954, Rechtsanwalt in Karlsruhe, zuvor langjährige Tätigkeit beim DGB – Rechtsschutz

Mit freundlicher Genehmigung des Autoren, zuerst veröffentlicht in “Politische Justiz in unserem Land”, ISBN 978 -3-944137-35-3
Preis: 14,80 Euro Erschienen im Peter Grohmann Verlag